PROJEKT 1.0 UNVORHERGEHÖRT / PROGRAMM
Zwischen Jazz, Minimal Music und Serialismus - Die Ensemblewerke von Marcus Antonius Wesselmann
EINLEITUNG | SEPTETT | OKTETT | NONETT | DUODEZETT | UNDEZETT
Als zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Komponisten der »Zweiten Wiener Schule«, allen voran Arnold Schönberg, den Durchbruch zur Atonalität vollzogen, warfen sie nicht nur die vertraute Klanglichkeit der Dur-Moll-tonalen Musik über Bord. Viel tiefgreifender war die Emanzipation von den bis dahin mehr oder weniger allgemeinverbindlichen, als eine Art musikalische Syntax vorausgesetzten Regeln der Funktionsharmonik, nach denen sich Töne und Harmonien aufeinander beziehen und so musikalische Abläufe und Formen gestalten ließen. Seither kreisen die Erwägungen vieler Komponisten, die sich nicht allein auf ihr subjektives Ausdrucksbedürfnis verlassen möchten, immer wieder um die Frage nach alternativen kompositorischen Systemen oder zumindest rationalen »Entscheidungshilfen«, anhand derer musikalische Ereignisse zusammengefügt oder aufeinander bezogen werden können. Bereits Schönberg hatte einige Jahre nach der Auflösung der Dur-Moll-Harmonik mit seiner Zwölftontechnik ein solches System entwickelt, das die Abfolge der Töne organisierte. Später weitete der Serialismus dieses Prinzip auf alle Dimensionen des Tonsatzes aus, wohingegen etwa John Cage sich kompositorische Einzelentscheidungen durch Zufallsprinzipien abnehmen ließ. Mit der Computertechnik eröffneten sich schließlich viele weitere Möglichkeiten, die Setzung musikalischer Ereignisse aus einem übergeordneten System heraus zu regulieren - man denke beispielsweise an das Komponieren mit mathematischen Algorithmen.
Einen in dieser Hinsicht ganz eigenen und konsequent verfolgten Weg hat der Kölner Komponist Marcus Antonius Wesselmann eingeschlagen. Seine Kompositionen sind äußerst akribisch durchorganisiert, ja sie vermitteln eine fast exorbitante Lust am Experimentieren mit Strukturen und prozesshaften Formen. Eine besondere Rolle spielen dabei Modelle, die Wesselmann dem Bereich der Mathematik oder der Informatik entlehnt, beispielsweise musikalische Pattern, deren rhythmische oder harmonische Gefüge er an Mustern von Binärcodes ausrichtet und die er dann mittels kombinatorischer Verfahren in groß angelegte Prozesse auswachsen lässt.
Vieles erinnert dabei an die Minimal Music: etwa die immer wiederkehrenden Pattern (melodisch-rhythmische Muster, die geringfügig variiert und abgewandelt werden), die Überlagerungen verschiedenartiger Prozesse, der rhythmische Drive und motorisch vorwärts drängende Bewegungsformen, sowie nicht zuletzt auch die auffällige Präferenz für einfache intervallische Verhältnisse in den einzelnen Stimmen - eine Art Gegengewicht oder Ausgleich zur ansonsten kaum überschaubaren Komplexität der im Hintergrund wirkenden Prozesse. Immer wieder schlägt die Musik - auch darin der Minimal Music respektive der repetitiven Musik verwandt - in quasi objekthafte Daseinszustände um, lässt in der Wahrnehmung des Hörers akustische Vexierbilder entstehen, die sich durch kleine Veränderungen von Takt zu Takt geringfügig wandeln.
Aber es gibt auch grundlegende Unterschiede zur Minimal Music, vor allem, wenn man an deren kontinuierlichen Phasenverschiebungen denkt, wie sie beispielsweise in Steve Reichs Piano Phase zutage treten. Denn Wesselmann geht es vor allem um nicht-lineare Prozesse, deren musikalische Verläufe sich nicht unbedingt und unmittelbar dem Hörer mitteilen und zuweilen vermeintlich chaotische Richtungsänderungen einschlagen. In gewisser Hinsicht stehen seine Texturen vielleicht sogar eher dem strengen Serialismus nahe, da solche Prozesse keineswegs auf einzelne Parameter beschränkt bleiben, sondern neben rhythmischen Mustern auch Tonhöhen und -längen, Harmonien, Dynamik, Instrumentierung und schließlich - in letzter Konsequenz - auch die Dauer bzw. die Anzahl der Takte eines Stücks bestimmen können.
Trotz dieser überaus rationalen Strategie gibt Wesselmann weder die kompositorische Verantwortung aus der Hand noch schottet er seine Musik hermetisch gegenüber außermusikalischen Einflüssen oder Impulsen aus der Musikgeschichte ab. So entzünden sich seine strukturellen Vorstellungen und Ideen durchaus auch schon einmal an gesellschaftlichen Vorgängen wie Solidarisierungs- oder Zersplitterungsprozessen (kette bilden! und spaltung im SEPTETT), aber ebenso an Werken Schönbergs (relief) oder der Musik Hanns Eislers, die per Zitat beispielsweise im NONETT anklingt. So hat Wesselmanns Musik eben auch den Hörer und seine (an traditionellen Mustern orientierte) Wahrnehmung im Blick. Schon die jazzartigen Besetzungen der Ensemblewerke, die zwischendurch immer wieder aufscheinenden improvisatorischen Züge, die hier und dort latent durchklingende, stilistisch freilich gebrochene Nähe zur Rock- und Popmusik sowie eine zuweilen überbordende Virtuosität (etwa im DUODEZETT) lassen daran keinen Zweifel.
SEPTETT (2001)
Die sieben Sätze des SEPTETTS (2001) lassen die wesentlichen Merkmale der Musik Wesselmanns exemplarisch hervortreten, ja sie wirken insofern geradezu modellhaft, als sich in ihnen die kompositorischen Strategien im Vergleich zu den übrigen Ensemblewerken deutlich offener zu erkennen geben. Wie in den anderen Kompositionen für Ensemble liefern der Titel und die Besetzungsgröße mit der Zahl 7 eine Art strukturelle Vorgabe, aus der fast alles in irgendeiner Weise abgeleitet wird. So setzen im ersten Satz AUFbau die sieben Instrumente nacheinander ein, wobei die sieben zunächst unbesetzten Achtelpositionen des Taktes in der Folge sukzessive mit jeder weiteren hinzutretenden Stimme von hinten nach vorne »aufgefüllt« werden. Damit vollzieht sich ein »Aufbau« sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen, das Klangbild wird gemäß der zugrundeliegenden Idee eines »nicht-linearen Instrumentationscrescendos« (Wesselmann) zunehmend dichter. Der im Ganzen auf eine synchrone Bewegung zielende Prozess schlägt schließlich kurz vor Schluss, wenn sämtliche Instrumente präsent sind, in eine gleichförmige, akkordisch geprägte Struktur um, die ihrerseits nahtlos in den zweiten Satz ABgesang mündet. Dieser bildet zusammen mit dem ersten insofern ein Gegensatzpaar, als hier die sieben Akkorde des zugrundeliegenden Rasterfeldes nach und nach durch Pausen ersetzt und so dessen rhythmische Muster zunehmend ausgedünnt werden. Dabei unterliegen die scheinbar chaotischen Veränderungen der morsecodeähnlichen Strukturen einem minutiösen kombinatorischen Plan, so dass nach genau 128 Durchgängen des 7er-Rasters auch alle 128 (27) möglichen rhythmischen Kombinationen von Akkorden und -pausen erklungen sind. Daran gekoppelt lässt Wesselmann einen übergeordneten dynamischen Prozess ablaufen, indem er jedem Rasterfeld – in Abhängigkeit von dessen relativer Ereignisdichte – eine eigene Dynamik zuweist. Das Stück erweist sich so als ein auskomponiertes, nicht-lineares Decrescendo, ausgehend von sieben Akkorden zu Beginn (im dreifachen Fortissimo) bis hin zu sieben lautlosen Pausen im letzten Durchgang.
Der dritte Satz scherzo, lento suggeriert schon in seinem bewusst widersprüchlich gehaltenen Titel, dass hier kein eigentliches Scherzo im klassischen Sinn gemeint ist. Vielmehr handelt es sich um eine dunkel gefärbte Klangflächenkomposition, deren harmonischen Verschiebungen und Klangfarbenänderungen über eine durchgängige Bewegung im Klavierbass gesteuert werden. Mit jeder Pendelbewegung im Bass tritt ein neues Ereignis innerhalb der darüber liegenden akkordischen Struktur ein, die auf zwei in allen möglichen 128 Kombinationen erklingenden Grundklängen beruht. Die insgesamt sehr zurückhaltende, nur am Ende ins vierfache Fortissimo gesteigerte Dynamik ist jeweils an den Grad der Veränderungen gekoppelt: je größer die harmonische Umstellung, desto lauter der Klang.
Um subtile Klangfarbenänderungen geht es auch im vierten Satz relief (quasi RONDO), der unterschwellig duch die changierenden Klangfarben in Arnold Schönbergs bekanntem Orchesterstück op. 16, Nr. 3 – seit einer von Schönbergs Schwiegersohn Felix Greissle 1925 veröffentlichten Bearbeitung mit Farben (Sommermorgen am See) betitelt – inspiriert wurde. Auf diesen Umstand, aber auch darauf, dass dieser Satz – anders als Schönbergs Komposition – jeder romantischen Färbung entbehrt, verweist der ironisch gebrochene Untertitel sommerabend an einer umgehungsstraße. Formal gliedert sich der Satz in sieben Abschnitte, wobei sich ähnlich einem klassischen Rondo bestimmte Elemente wiederholen. Vor allem die in den ersten beiden Abschnitten vorgestellten und später weiterentwickelten Texturtypen geben dem Titel relief einen konkreten musikalischen Sinn: Im ersten gleitet der Ensembleklang zwischen zwei einander gegenübergestellten Akkordschichtungen gewissermaßen zwischen zwei Ebenen hin und her, während der zweite Abschnitt aus einem ostinat wiederholten Akkord besteht, wobei eine stimmenweise ausdifferenzierte Behandlung der Dynamik minimale Klangfarbenveränderungen bewirkt, ja ein »harmonisches Relief« innerhalb dieses statischen Akkordgefüges hervortreten lässt.
Im fünften Satz spaltung (lamento) wird ein 7-töniges Modell auf der Grundlage einer phrygischen Tonleiter nach und nach zerlegt, eben »aufgespalten«, indem sich immer weitere Töne aus der auf und ab bewegenden Tonskala herauslösen und auf ihrer jeweiligen Tonhöhe liegen bleiben – ein Prozess, der schließlich zur vertikalen (akkordischen) Schichtung der zu Beginn horizontal (linear) ausgebreiteten Skala führt. Das genaue Gegenteil davon bildet der anschließende sechste Satz mit dem instruktiven Titel kette bilden! An einen zunächst siebenfach wiederholten Akkord schließen sich mit jedem Takt weitere Töne an, sodass die akkordische Struktur zunehmend in melodische Pattern übergeht. Zum Ende hin wird die Verflechtung schließlich so dicht, dass wieder eine vollkommen synchrone Bewegung vorherrscht. verschleierung (oder: das schweigen des sängers) lautet der Titel des letzten Satzes, der sich als eine Art Gesangsbegleitung zu einer imaginierten Gesangsstimme verstehen lässt. Neben dem übergeordneten Prozess einer abnehmenden Ereignisdichte prägt diesen Satz – darauf deutet das Titelwort »verschleierung« – die Idee der Verdeckung musikalischer Strukturen, die Wesselmann hier durch die Überlagerung von mehreren verschiedenartigen formgebenden Prinzipien in einer Art Materialmultiplikation realisiert.
OKTETT (1995)
Eine ungleich komplexere, in sich verschachtelte formale Anlage weist das OKTETT (1995) auf. Seine inneren strukturellen Zusammenhänge und den mit mathematischem Kalkül generierten formalen Ablauf wird der Hörer vielleicht in seiner Komplexität erahnen, kaum aber im Einzelnen nachvollziehen können. Nacheinander werden verschiedene rasterartige musikalische Bausteine eingeführt, die sich durch eigene satztechnische Charakteristika auszeichnen und deren Dauer im Verlauf des Stücks jeweils exponentiell zunimmt. Bevor ein neues Strukturmodell erklingt, werden jeweils alle anderen bis dahin verwendeten Modelle in kombinatorisch weiterentwickelter Form zwischengeschaltet – eine extreme, gleichsam von innen heraus betriebene Expansion der Form, die das Stück wie aus einer kleinen Keimzelle scheinbar ins Unendliche wuchern lässt. Erst zum Ende hin kippt dieser Prozess um und es erscheinen alle musikalischen Modelle einmal in umgekehrter Reihenfolge. Mit der permanenten Variation der angewandten Strukturen sind nicht nur Wiederholungen und wiedererkennbare Passagen weitestgehend ausgeschlossen, sondern es treten immer wieder auch abrupte, unvorhersehbare Wechsel in der Satztechnik, in der Instrumentation und im Tempo auf. Der Hörer bewegt sich so – mehr oder weniger orientierungslos – wie auf einem großen, ständig in neue Muster und Texturen übergehenden Flickenteppich.
NONETT – 512 bpm – (1998)
»Wer sich nicht in die Gefahr begibt, kommt darin um«, lautet das Motto des 1998 entstandenen NONETTS. Mit dieser hintergründigen Abwandlung des Bibelsatzes »Wer sich in die Gefahr begibt, kommt darin um« aus dem Buch Jesus Sirach (3,27) spielt Wesselmann ein wenig augenzwinkernd auf das halsbrecherische, ja im Grunde nicht zu realisierende Tempo des Stücks an, das der Untertitel lakonisch mit »512 bpm« vorgibt. Die Musiker sollen sich also (wie eben auch der Komponist) bewusst, in einer Art »Flucht nach vorn«, der Gefahr eines irrwitzig schnellen Tempos aussetzen.
Ganz in diesem Sinne verstehen sich auch die widerstreitenden Kräfte im Innern der musikalischen Strukturen. Werden im OKTETT mehrere Strukturraster und Prozesse in eine zeitliche Abfolge gebracht, so gründet das NONETT auf der Idee, solche Prozesse simultan zu schichten, ja sie als konkurrierende und sich gegenseitig beeinflussende musikalische Ebenen über- und gegeneinander zu stellen. Gleich zu Beginn stehen sich mit den Bläsern einerseits und der Gruppe von Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass, Klavier und E-Orgel auf der anderen Seite zwei voneinander abgesetzte musikalische Ebenen gegenüber, die unterschiedliche, jeweils über Binärcodestrukturen und Kombinatorik gesteuerte Prozesse verkörpern. So ähneln die rhythmisch stets variierten und zunächst von Schlagzeug, Gitarre, Bass, Klavier und Orgel gespielten Pattern, die im Verlauf des Satzes immer weiter verkürzt werden, dem zweiten Satz des SEPTETTS, während die Bläser eine durchgängige Neuner-Struktur spielen. Im Verlauf des Stücks gehen diese Strukturen in wechselnde Instrumentengruppierungen über und lassen so verschiedenartige Instrumentationsmuster hervortreten. Am Ende bildet ein mit Lamento überschriebener Abschnitt, der Strukturen des vorherigen Teils augmentiert, ja gleichsam in die Länge zieht, einen deutlichen Kontrast – die Musik setzt hier zu einer Klage auf die Anstrengungen und Mühen dieses irrwitzigen Stückes an.
DUODEZETT – phases de deux – (2002/04)
Das DUODEZETT – phases de deux – hebt sich als Doppelkonzert für Cello und Violine sowie drei Saxofone, zwei Posaunen, zwei Trompeten, E-Bass, E-Gitarre und Klavier in zweifacher Hinsicht von den übrigen Ensemblewerken ab: Nicht nur stehen hier gleich zwei Solisten im Vordergrund; Wesselmann stellt darüber hinaus mit dem Solo-Cello und der Solo-Violine auch zwei Streichinstrumente in den Mittelpunkt des Geschehens – was insofern bemerkenswert ist, als die Streicher in den anderen Ensemblewerken (abgesehen von einer Ausnahme) gar nicht besetzt sind und auch sonst in seinem Œuvre auffällig unterrepräsentiert bleiben. Gleichwohl lässt das DUODEZETT den Begriff des Solistischen mehrdeutig erscheinen, da laut dem Vorwort der Partitur die beiden Solisten »nicht in Konkurrenz zueinander treten« sollen. Vielmehr seien die Instrumente die »beiden Komponenten des einen (stark erweiterten) Streichinstrumentes, für welches das vorliegende Stück komponiert wurde.«
Schon in der Einleitung schält sich der Ton d als Zentralton heraus, auch wenn er zunächst noch durch den hohen Geräuschanteil der Tonerzeugung verdeckt bzw. von den beiden Soloinstrumenten mehr umkreist als tatsächlich intoniert wird. Im Anschluss an diese Introduktion überlagern sich im Ensemble verschieden lange Phasen, deren Proportionen auf Primzahlverhältnisse zurückgeführt werden können, wobei jedem Instrument neben der eigenen Phasenlänge auch eine eigene Lage und Tonhöhe zugewiesen ist. Wesselmann verfolgt das Prinzip der Überlagerung aber nicht nur auf der Ebene des Tonsatzes, sondern auch in der Dynamik der Zusammenklänge, deren Lautstärke mit zunehmender Anzahl von gleichzeitig erklingenden Tönen ansteigt. Der Effekt einer ohnehin durch die Instrumentation bedingten Dynamik wird so bewusst verstärkt, die dynamischen Abstufungen sind als unmittelbare Konsequenz des Tonsatzes auskomponiert.
Die beiden Solisten, deren Parts eng ineinander verzahnt sind, greifen die einzelnen, jedoch aufgrund der hinzutretenden Instrumente immer dichter aufeinanderfolgenden Impulse des Ensembles auf. In dem sie nicht nur die Tonhöhen des Ensemblesatzes in ihre Stimmen aufnehmen, sie den Ensemblesatz so gewissermaßen in einer Stimme zusammenfassen, sondern darüber hinaus auch die unterschiedlichen Klangfarben der Ensembleinstrumente in bestimmte Spieltechniken »übersetzen«, entwickeln sie im Verbund einen zunehmend virtuosen Instrumentalsatz, der schließlich die Grenze der Spielbarkeit überschreitet. Mithin prägen hier keineswegs nur »sauber« intonierte, sondern auch geräuschhafte Passagen das Klangbild – ein ausdrücklich gewünschter Effekt, der – so Wesselmann im Vorwort – als Ausdruck einer »Komposition der solistischen Anstrengung (…) auf jeden Fall hörbar sein« soll. Diese Entwicklung gipfelt in einem Kulminationspunkt, wie er für Wesselmanns Kompositionen charakteristisch ist: An der Stelle maximaler Dichte und Komplexität schlägt die Satzstruktur in einen gegenläufigen Prozess um. Ein groß angelegter musikalischer »Countdown«, bei dem sukzessive die einander überlagernden Phasen verkürzt werden, steuert schließlich auf zwei hochvirtuose, aber nicht weniger streng organisierte Kadenzen zu. Dort lässt Wesselmann die beiden jeweils durch instrumententypische Spieltechniken und -figuren geprägten Solostimmen mehrfache Überlagerungsprozesse durchlaufen, indem er ihre Tonhöhenereignisse, dynamischen Akzente und spieltechnischen Charakteristika in simultan geschichteten Pattern unterschiedlicher Phasenlängen organisiert.
UNDEZETT – opernfragment – (2000/2004)
Das UNDEZETT hat seine Wurzeln in einem unvollendeten Opernprojekt, einer geplanten und in einzelnen Teilen bereits auskomponierten Oper mit dem Titel Hundeherz nach Michail Bulgakows gleichnamiger Novelle aus dem Jahr 1925. Die in sich streng organisierten Fragmente der Oper fügte Wesselmann im Jahr 2000 zu einer Ensemblekomposition zusammen – wobei die Assonanz von »Hundeherz« mit UNDEZETT, dem Titel des neuen Werks, durchaus bewusst hergestellt ist. Dem Entstehungsprozess entsprechend – und im Gegensatz zu den anderen Ensemblewerken, deren musikalische Keimzellen und Strukturen durchgängig in direktem Zusammenhang mit der Titelzahl und dem Besetzungsumfang stehen – herrscht hier das Prinzip der Montage ganz unterschiedlich strukturierter Materialien vor. So gliedert sich die Partitur gemäß der zusammengesetzten Opernfragmente in drei ineinander übergehende, von deutlichen Kontrasten und verschiedenartigen musikalischen Charakteren geprägte »Szenen«, die rhythmisch pulsierende, vorwärtstreibende und von homophonem, sattem Bläsersound übermalte Ensemblepassagen mit solistischen, zuweilen rezitativisch und gesanglich anmutenden Einschüben einander abwechseln lassen. Darüber hinaus lässt das UNDEZETT besonders deutlich Wesselmanns Faible für den Jazz spüren und hier und dort – freilich stilistisch gebrochen – Anklänge aus der Rock- und Popmusik, aber mit einem Zitat aus der Kuhle-Wampe-Suite vor allem auch die Musik Hanns Eislers durchklingen. Der Komponist liefert hier einmal mehr den Beweis dafür, dass rationalistische Konstruktionsverfahren und ein offener, für vielfältige Einflüsse und Inspirationsquellen empfänglicher Musikbegriff sich keineswegs ausschließen müssen.
Andreas Günther