PROJEKT 1.0 UNVORHERGEHÖRT / KRITIKEN
MusikTexte Nr.116 / Seite 91: Das Ensemble Modern porträtiert Marcus Antonius Wesselmann
Die Szene der neuen Musik, in der scheinbar jeder jeden kennt, ist immer wieder für Überraschungen gut. Völlig unbekannt in einschlägigen Kreisen, Foren und Spielstätten war bisher Marcus Antonius Wesselmann. Der 1965 in Gelsenkirchen geborene Komponist studierte an der Folkwang-Hochschule Essen bei Wolfgang Hufschmidt und Dirk Reith. Seit 2000 lebt er in Köln, wo er einstweilen noch nicht von sich hören machte. Ohne jede Unterstützung örtlicher Institutionen und Geldgeber hat er jetzt völlig „unvorhergehört" – so der Titel seines Porträtkonzerts – in der Kölner Flora seinen verspäteten Einstand gegeben. Das für einen solchen Katapultstart aus der Versenkung von null auf hundert Nötige hat er offenbar alles selbst organisiert und finanziert: Ort, Ensemble, über die Stadt verteilte Plakatierung und voluminöses Programmheft mit Sekundärtexten und zahlreichen Notenbeispielen. Allein das ist schon eine Leistung. Auf das Programm setzte er ausschließlich eigene, zwischen 1995 und 2004 entstandene Werke, die offenbar erst einmal in der Schublade landeten, jetzt aber von keinen Geringeren uraufgeführt wurden als den Musikern des Ensemble Modern unter Leitung von Franck Ollu.
Bereits die Besetzung der insgesamt fünf präsentierten Stücke mit Saxophonen, Trompeten, Posaune, E-Gitarren, E-Orgel, Klavier und Drumset verrät eine andere, nicht-klassische Herkunft aus Jazz, Rock und Bigband. Dem phantastisch sicher aufspielenden Frankfurter Ensemble schien das entgegenzukommen, unternimmt es doch immer wieder gerne Ausflüge abseits der üblichen Spiel-arten neuer Musik, wie vor einigen Jahren mit Stücken Frank Zappas. Wesselmann jedoch lässt die Besetzung kaum je so klingen, wofür sie traditionellerweise einsteht. Stattdessen reiht er von Pausen durchsetzte, zuckende Folgen kurzer, abgerissener Töne, die sich wechselseitig überlagern und mit Beats und Off-Beats Affinitäten zum Jazz und zur Minimal Music erkennen lassen. Moderator Michael Struck-Schloen beschrieb den Komponisten in Anlehnung an dessen römischen Namensvetter Marc Anton als „komponierenden Strategen". Im Gegensatz zum antiken Feldherrn, der sich noch ganz auf eigene Berechnungen verlassen musste, macht der Komponist vom Computer Gebrauch. Er baut seine Stücke aus binären Codes, Mustern, Kombinatorik, Schichtungen und Reihungen. Ein Satztitel „Kette bilden!" seines siebensitzigen Septetts benennt sein universales Kompositionsprinzip: zu Ketten verflicht er Wiederholungen, Patterns, Abschnitte, Instrumente und ganze Stücke. Dem Septett folgen Oktett, Nonett ... Undezett, Duodezett. Im Zentrum dieser Musik stehen Rhythmus, Metrum und Tempo bis zur Raserei mit nur wenigen kontrastierenden Liegeklängen und Ruhemomenten. Klanglich, harmonisch und dynamisch bleiben die Stücke einförmig. Das lag auch an ihrer einseitigen Zusammenstellung, die sich als lähmend erwies und zweifellos mehr aufführungspragmatischen als dramaturgischen Gründen folgte. Die höchst nervöse, fast durchweg im Forte und Tutti ständig wie kurz vor dem Kollaps zappelnde Musik hätte ermüdet, wäre sie vom Ensemble Modern nicht hellwach wie unter einer Überdosis Koffein gespielt worden. Eine wahre Tour de force für Musiker wie Hörer ist mit „512 bpm" – sprich fünfhundertzwölf beats per minute – in Wesselmanns motorischmechanistischem Nonett von 1998 erreicht, dessen wenige Haltepunkte indes umso intensiver wirkten.
Wohltuend andere Klangfarben und Gesten boten einzig Violoncello und Violine im Duodezett „phases de deux", dem jüngsten Werk von 2004. Zwischen quälenden Akkordwiederholungen schreiender Saxophone und Trompeten agieren die beiden Solisten wie auf einem einzigen, in Klang und Ambitus stark erweiterten achtsaitigen Metastreichinstrument. Die Geige führt die Skalen des Cellos nahtlos ins höchste Register, wo sie der Cellist mit Staunen erregend hohen Zwitscherklängen jenseits des Griffbretts aufgreift und wieder in spielbarere Regionen zurückleitet. Dank der Präzisionsarbeit im filigranen Zehntelmillimeter-Bereich der Solisten Rafal Zambrzycki-Payne und Michael M. Kasper zeigten sich hier Momente von Grenzüberschreitung inmitten der ansonsten allzu selbstgenügsam vor sich hin tobenden Pulsationen. Stilistische Ausbrüche unternimmt auch Wesselmanns ebenfalls 2004 vollendetes Undezett „opernfragment", das die obligatorische Bläserbesetzung historisch-idiomatisch erdet mit Anklängen an Hanns Eislers Kampfmusiken der zwanziger und dreißiger Jahre sowie den Jazz und dessen europäische Adaptionen dieser Phase.
Die Einsicht, Komponisten seien Einzelkämpfer, ist nicht neu, erhält aber im Fall von Marcus Antonius Wesselmann neue Bekräftigung. Man darf gespannt sein, was auf die prominent besetzte erste Vorstellung des Komponisten folgt. Welche Rolle wird er künftig im Kölner und deutschen Musikleben spielen? Wie und wo wird er nach dieser ersten Steilvorlage als nächstes in Erscheinung treten? Was erwächst möglicherweise noch aus der Kombination des weltbekannten Spitzenensembles mit Stücken dieses bisher völlig unbekannten Komponisten...?
Rainer Nonnenmann