PROJEKT 2.0 SOLISTEN / PROGRAMMAUSZÜGE
Die Solowerke von Marcus Antonius Wesselmann
SOLO 1 | SOLO 2 | SOLO 3 | SOLO 4 | SOLO 10 | SOLO 11 | SOLO 15 | SOLO 18
SOLO 1 (1986)
Eine alte Waschmaschine und die gegenläufigen Geräusche ihrer rotierenden Trommel, der herunter fallenden Wäsche und eines tickenden Zählers. Ein ratternder Zug und das rhythmisch versetzte Pochen von gusseisernen Rädern und vorbeiziehenden Hochleitungsmasten. Ein Spirograph aus buntem Plastik, kreisrunde Scheiben mit Zahnrädern, die ineinandergreifen und - von einem Stift angetrieben - geschwungene, nie identische Spiralen auf ein Blatt setzen. Später dann die repetitiven Muster in Werken wie first construction in metal von John Cage und music for 18 musicians von Steve Reich ? seit sich Marcus Antonius Wesselmann erinnern kann, faszinieren ihn akustische (und optische) Ereignisse, die phasenverschoben verlaufen. In vielen seiner Stücke spielen sie eine zentrale Rolle. Auch in solo 1: Die Vermittlung zwischen zwei komplementären Materialgruppen steht hier im Zentrum, deren rhythmische und melodische Strukturen während des Stücks überlagert, verzahnt und gegeneinander verschobenwerden, ohne die jeweils eigene Identität aufzugeben. Marcus Wesselmann greift damit auf ein kompositorisches Verfahren zurück, das bereits seit dem 14. Jahrhundert existiert: Im Talea-Color-Prinzip der Ars Nova, bei dem der Tenor einer Ars-Nova-Motette nach rhythmischen (Talea) und melodischen (Color) Mustern durchstrukturiert wurde.
Sylvia Sytermans
SOLO 2 (1987, version 2004)
Uraufgeführt wird im heutigen Konzert auch solo 2 von Marcus Antonius Wesselmann (*1965). Die Geschichte des Stücks reicht bis 1987 und teils noch in die Studienzeit des seit 2000 in Köln ansässigen Komponisten zurück. Seitdem schuf er mehrere neue Versionen, deren letzte in engem Austausch mit Dirk Rothbrust entstand, dem sie auch gewidmet ist. Zentrales Merkmal von solo 2 ist die Spannung zwischen Symmetrie und Asymmetrie, zwischen vordergründiger „Ordnung“ und deren Aufhebung, zwischen linearem Vorwärtsdrang und dessen Aushöhlung mittels „nicht linearer Prozesse“ – eine Spannung, die alle Ebenen des musikalischen Satzes durchdringt. Repräsentiert der durchlaufende 4/4-Takt ein schlichtes metrisches Gefüge, so wird dieses von ungeraden, an der Zahl 17 orientierten Proportionen unterminiert. Die 17 kehrt auch im Verhältnis 7:3:5:2 wieder, das sich sowohl großformal in den unterschiedlichen Längen der vier Abschnitte des Werks als auch auf kleinstem Raum, etwa in der Platzierung von Sforzato-Schlägen, abzeichnet. In sich ist das konstruktive Gerüst zwar stringent, die Strukturen sprechen für sich selbst, dennoch weisen sie über sich hinaus, indem sie sich im vielschichtigen Klangbild „verlebendigen“. Gegensätzliche Instrumentengruppen unterstreichen diese Komplexität noch. Mal tritt die eine, mal die andere hervor, und auch scheinbar Nebensächliches rückt plötzlich ins Zentrum der Wahrnehmung. Diese Struktur vergleicht Wesselmann mit einer berühmten Szene aus Alfred Hitchcocks Film Der unsichtbare Dritte, in der ein Flugzeug, das zunächst nur im Hintergrund zu sehen ist, zur massiven Bedrohung für die Hauptfigur gerät. Semantisch aufgeladen oder „Programmmusik“ ist sein solo 2 aber nicht im Mindesten – auch wenn Vereinzelung und Kettenbildung an Reflexionen über Individuum und Gemeinschaft gemahnen oder eine Triller-pfeife auf dem Höhepunkt der Verdichtung Tumult und Aufruhr signalisiert.
Egbert Hiller
SOLO 3 (1992)
Der Kölner Komponist Marcus Antonius Wesselmann hat bereits ein recht umfangreiches Œuvre vorgelegt, zu dem neben zahlreichen Solo- und Ensemblewerken auch ein abendfüllendes, allerdings noch nicht uraufgeführtes Oratorium (preparadise nach Rainer Werner Fassbinder und Bertolt Brecht) gehört. Allen seinen bisher entstandenen Werken ist gemein, dass ihnen komplexe strukturelle Vorordnungen zugrundeliegen, die etwa auf vorab definierten Zahlenformeln oder Binärcode-Folgen fußen. Sie regulieren sowohl großformale Prozesse als auch die kompositorische Integration einzelner musikalischer Parameter wie Tonhöhen, Tondauern und Dynamik sowie harmonische Konstellationen, Ereignisdichten, Instrumentierungen und sogar verschiedene instrumentale Spielweisen. Wesselmann strebt so eine Musik an, in der Form und Inhalt gewissermaßen zusammenfallen und die zugleich eine sich dem Hörer allzu unmittelbar aufdrängende Emotionalität vermeidet.
All dies gilt auch für sein solo 3, das 1992 entstand und somit eine seiner frühesten gültigen Kompositionen ist. Wie in anderen Werken ging Wesselmann in diesem Stück für E-Gitarre von bestimmten physikalischen und akustischen Eigenschaften des Instruments aus, um diese der kompositorischen Faktur wie ein Raster von Regeln und in Zahlenverhältnissen ausgedrückten Proportionen einzupflanzen. Zentral ist diesbezüglich der Umgang mit den Saiten bzw. deren Stimmung: Zum einen stützt sich Wesselmann – gleichsam virtuell – auf die traditionelle Gitarrenstimmung, in dem er die Schwingungsverhältnisse der Saiten (etwa 3:4 im Fall der Quarte) den Proportionen der verschiedenen Tempi, aber auch den harmonischen, rhythmischen und letztlich auch spieltechnischen Konstellationen zugrundelegt. Andererseits hebelt er jedoch gleichzeitig die herkömmliche Stimmung durch eine Skordatur, also ein gezieltes diatonisches Verstimmen der Saiten, aus. Die notierten und als solche auch gegriffenen Dur- und Mollakkorde erklingen damit als komplexe dissonante Gebilde.
Jeder der sechs Sätze steht für eine bestimmte spieltechnische Idee – wie beispielsweise die Bottleneck-Glissandi im zweiten und dritten Satz oder die Technik des Echo-Delays im ersten und letzten Satz, welche die Klangereignisse mit einem fest eingestellten Tempo von 70 Wiederholungen pro Minute repetiert. Wie eine Klammer erscheinen die beiden Außensätze, die von ihrer Materialanordnung her identisch sind, jedoch durch völlig verschiedene Tempi – der Schlusssatz wird genau viermal so schnell gespielt wie der erste Satz – recht kontrastierende Klangwelten entfalten. Die unterschiedlichen Tempi sorgen dafür, dass die live gespielten Akkordfolgen durch das (im Tempo fixierte) Echo-Delay jeweils auf andere Weise mit ihrer zeitlich verzerrten Kopie überlagert werden und so in verschiedenartigen Rhythmisierungen erscheinen.
Andreas Günther
SOLO 4 (1993, version 2003)
Das Schaffen Marcus Antonius Wesselmanns zeichnet sich durch ein hohes Maß struktureller Vorordnungen aus. Fast alle seine Werke gründen auf Zahlenformeln, Binärcodes oder anderen mathematischen Modellen, die – permutiert oder kombinatorisch weiterentwickelt – der Organisation des musikalischen Materials zugrunde liegen. In gewisser Weise steht Wesselmann so den rationalistisch-strengen Verfahrensweisen des Serialismus nahe, wenn er großformale Prozesse, die Gestaltung einzelner musikalischer Parameter (wie Tonhöhen, Tondauern, Dynamik) oder harmonische Konstellationen, Ereignisdichten, Instrumentierungen und zuweilen auch Spieltechniken auf der Grundlage solcher Systeme realisiert. Damit vermeidet er bewusst eine sich dem Hörer allzu direkt aufdrängende Emotionalität, ohne jedoch das klangliche Resultat aus dem Blick zu verlieren. So gehört die unmittelbar wahrnehmbare Spannung zwischen strenger Konstruktion und Ordnung einerseits und der Suggestion chaotisch-desorganisierter Strukturen andererseits zu den zentralen ästhetischen Motiven seines Schaffens.
Seit seinem szenischen Oratorium preparadise (1993–2002) nach Rainer Werner Fassbinders Theaterstück preparadise sorry now (1969) und Texten von Bertold Brecht, in dem er sich mit Formen faschistoiden Verhaltens im Alltag auseinandersetzte, lässt Wesselmann immer wieder auch politische und sozialkritische Gedanken oder Stellungnahmen in sein Schaffen einfließen. Ein solcher Hintergrund prägt auch sein solo 4 für Viola mit dem Untertitel emsland case, das 1993 als Musik zu Volker Schröders Dokumentarfilm Wenn ich in die Tiefe schaue entstand, jedoch von vornherein auch als ein für sich allein aufführbares Werk konzipiert wurde, als das es im heutigen Konzert erklingt.
Volker Schröder, der Wesselmann um eine Musik zu seinem Dokumentarfilm bat, thematisiert in diesem die Schicksale von sechs Personen, die während des Nationalsozialismus’ in Arbeitslagern im Emsland inhaftiert waren und die nun in sechs eigenen, jeweils mit historischen Filmaufnahmen und Landschaftsbilder aus dem Emsland verbundenen Episoden zu Wort kommen. Den düsteren, befremdenden Bildern des Films korrespondiert auf der behutsam und sparsam eingesetzten musikalischen Ebene der bewusst gewählte, schwermütige Bratschenklang. Darüber hinaus spiegelt Wesselmanns solo 4 auch formal die Struktur des Filmes wider. Den sechs vorgestellten Personen entsprechen sechs ihnen gewidmete musikalische Abschnitte, die von einem Prolog und einem Epilog eingefasst werden. Jeder dieser Abschnitte besteht wiederum aus charakteristischen Material- bereichen, die von Abschnitt zu Abschnitt jeweils spieltechnisch, artikulatorisch und strukturell weiterentwickelt werden. So beginnen alle Episoden mit einem leicht wiedererkennbaren – und an eine Zwölftonreihe angelehnten – Tonfeld, das zunächst pizzikato, also gezupft, gespielt wird, im Verlauf des Stückes jedoch in klanglich immer direktere Spielweisen bis hin zum stark gepressten Ton überführt wird.
Andreas Günther
SOLO 10 (2006)
„Zur Dynamik: Das vorliegende Werk soll, wenn nicht anders angegeben, mit maximaler Lautstärke gespielt werden. Es ist jedoch darauf zu achten, dass zwischen akzentuierten und nicht-akzentuierten Tönen ein deutlicher Kontrast hörbar ist.“ In dieser Anmerkung von Marcus Antonius Wesselmann in der Partitur seines solo 10 zeichnen sich zentrale Merkmale des 2006 komponierten und nun zur Uraufführung gelangenden Werks ab: die enorme Kraftanstrengung samt Durchhaltevermögen, die es dem Solisten abverlangt, und das Prinzip des Kontrasts, das solo 10 durchdringt. Das fängt bei den drei Materialebenen an, die zugleich drei Bewegungsformen repräsentieren: Die erste formuliert als Anfangssequenz einen Nukleus, der eine immer wieder gebrochene tänzerische Linie exponiert. Demgegenüber steht als zweite Ebene der „Stillstand“, in dem die Horizontale durch Akkordbildung ins Vertikale transformiert. Die Akkorde beruhen auf Multiphonics, von denen insgesamt 20 auf vorgegebenen Basistönen Verwendung finden und deren Ausführung der Spieler selbst bestimmen soll. Ihre Bedeutung nimmt im Verlauf von solo 10 zu, bis sie am Ende zur dominierenden Klangqualität aufsteigen. Das geschieht auf struktureller Basis, indem die Multiphonics als Fenster und Verbindungsglieder zwischen zwei interferierenden Phasen fungieren. Die dritte Materialebene ist die der rasanten Beschleunigung, die sowohl mit dem „Tänzerischen“ – als aus den Fugen geratener Tanz – als auch in dialektischer Verknüpfung mit dem Stillstand als Gegenbild korrespondiert.
Den drei Materialebenen entsprechen drei Grundzüge der Klangerzeugung: vom tradierten sonoren Eigenklang des Fagotts über dessen Verfremdung zum „swingenden“ Saxofon bis zum Didgeridoo-Effekt, in dem in Anlehnung an das Blasinstrument der australischen Ureinwohner ein singender, extrem obertonreicher Klang entsteht. Dies unterstreicht die Wandlungsfähigkeit des Instruments. Zudem spiegeln sich indirekt auch Klassik, Jazz und Weltmusik als drei zentrale Bereiche des Musiklebens und der Musikausübung wider. Strukturelle Faktoren waren bei der Konzeption des Werks ausschlaggebend; dennoch stimuliert die klingende Verlebendigung dieser Strukturen auch die Vorstellungskraft. So kann es als gesellschaftspolitische Reflexion aufgefasst werden, dass die wechselseitigen Beziehungsfelder in solo 10 einen „Gleichschritt“ unmöglich machen.
Egbert Hiller
SOLO 11 (2007)
Wie Arnulf Herrmann reflektiert auch Marcus A. Wesselmann in seinem für Uwe Dierksen geschriebenen solo 11 die spieltechnischen und klanglichen Besonderheiten der Posaune. Freilich nicht mit dem Ziel, traditionelle Arten des Posaunespielens zu bedienen, sondern um im Gegenteil – gemäß seines Ideals, den Gebrauch des Instruments stets aufs Neue zu erfinden – vorgefertigte Muster aufzubrechen und mit bislang unerprobten Spielweisen zu experimentieren. Wesselmanns Vorliebe für präzis kalkulierte, über kombinatorische Verfahren gesteuerte Prozesse kommt auch hier zum Tragen. Ausgehend von einer fixen Tonskala und auf der Grundlage von definierten Phasen unterschiedlicher Dauern, denen jeweils charakteristische Spieltechniken (wie Glissando, Flatterzunge oder Einsatz des Dämpfers), Artikulationsarten (z.B. Akzente) oder auch bestimmte Tonlagen zugeordnet sind und die mittels eines kombinatorischen Verfahrens aneinandergereiht und geschichtet werden, bringt Wesselmann einen groß angelegten Prozess der Materialverdichtung in Gang. Damit schließt er nicht nur Redundanzen (also Wiederholungen von Materialien gleicher Gestalt) aus, sondern ermöglicht zugleich ganz unerwartete, ja unorthodoxe Kombinationen von Spiel- und Artikulationsformen, deren Überlagerungen vermeintlich zufällig zustande kommen, die tatsächlich aber über die zugrunde liegende Kombinatorik gesteuert werden. Das Stück, das den Interpreten konditionell und technisch aufs Äußerste fordert, kommt so einem gewagten naturwissenschaftlichen Experiment nahe: Das Spektrum der angewandten Spieltechniken erscheint zunächst in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, die dann – ihres traditionellen Kontextes enthoben und voneinander isoliert – quasi voraussetzungslos und gleichsam seriell miteinander kombiniert und in völlig neue Zusammenhänge gebracht werden.
Andreas Günther
SOLO 15 (2008)
Die schlichte Bezeichnung „solo“ verweist auf einen schöpferischen Grundimpuls des Komponisten Marcus Antonius Wesselmann. In den meisten seiner Werke zielt er auf rein innermusikalische Prozesse. Dieser Ansatz, den er konsequent verfolgt, steht allerdings im Spannungsverhältnis zu seinem Hauptwerk, dem szenischen Oratorium preparadise (1993 – 2002) auf Texte von Rainer Werner Fassbinder und Bertold Brecht. Darin sind die kompositorischen Ideen bereits angelegt, die Wesselmann in seinen Solostücken hinsichtlich ihrer strukturellen Potenziale auslotet und weiterentwickelt.
In solo 15, einer Reflexion über Bewegung und Stillstand, wäre es verfehlt, nach einem verborgenen Programm zu forschen. Der „Stillstand“, versinnbildlicht durch liegende Akkorde, umrahmt einen schnellen Mittelteil, der nach einer kurzen Phase der Beschleunigung seine rasende Fahrt aufnimmt. Das Akkordeon wird zwar gegen seine volksmusikalische Tradition eingesetzt, doch geschieht dies gerade unter Einbeziehung jenes Akkordmanuals, das in der Volksmusik eine zentrale Rolle spielt und bei dem mit jedem Knopf, der gedrückt wird, ein Akkord erklingt. In solo 15 ist, so die Vortragsanweisung, „der Konverter auf Akkord geschaltet“ – wobei sich Wesselmann auf die Dur- und Mollakkorde beschränkte und die verminderten und Septakkorde ausklammerte.
Die Verwendung dieser Akkorde ist in der zeitgenössischen Akkordeonliteratur zwar unüblich, führt im Kontext der komplexen strukturellen Disposition aber zu ungewöhnlichen Klangresultaten. Akzent- und Akkordschichten durchdringen sich in Gegenläufigkeit, Akkorde erscheinen phasenversetzt und markante Terzschichtungen werden gegeneinander verschoben. So entstehen „Klangwolken“, die durch die rhythmisch eigenständige Behandlung des Balgs noch verstärkt werden.
Tremolierende Klangereignisse und Stillstand sind die Pole in solo 15, die unmittelbar miteinander korrespondieren. So werden gegen Ende einzelne Phasen überdehnt, bis sie in „Stillstand“ umschlagen: Der Kreis schließt sich. Wesselmann schrieb das Werk explizit für die solisten-Reihe im Austausch mit Teodoro Anzellotti, der es im heutigen Konzert uraufführt.
Egbert Hiller
SOLO 18 (2009)
Es ist eine schreitende Bewegung, der solo18 von Marcus Antonius Wesselmann seinen Untertitel „passepied“ verdankt. Wie in vielen Werken Wesselmanns wird auch in solo18 die vordergründig wahrnehmbare akustische Gestalt von einer komplexen Vorstrukturierung des Materials getragen, die – quasi subkutan – den eigentlichen Verlauf des Werkes bestimmt. Neben der schreitenden Bewegungsform sind Quintintervalle als Verweis auf die charakteristische Klanglichkeit des Cellos mit seinen in Quinten gestimmten Saiten bestimmender Ausgangspunkt von solo18. Als „quasi harmonische Keimzelle“ fungiert eine zu Beginn vorgestellte Einheit aus Quinten und Terzen als Generator für das gesamte Stück. Ein kompositorischer Prozess, dem kein motivisches Denken zugrunde liegt, sondern mathematische Modelle und Zahlenformeln, sogenannte Binärcodes, aus denen in solo18 Tonhöhen und rhythmische Verläufe abgeleitet werden. Die gleichförmig verlaufende Bewegung des Quintintervalls wird als formaler Kontrapunkt in allen Varianten durchdekliniert: aufwärts und abwärts, mal als reine Quinte, mal in große und kleine Terzen geteilt. In einer zweiten Ebene wird dieser Bewegungsfluss von einem Raster überlagert, das sein Material aus einem gedachten Kontinuum von quasi chaotisch angeordneten Tonhöhen bezieht. Diese greifen als Akzente in die erste Ebene ein und bringen den gleichförmigen Bewegungsimpuls scheinbar ins Stocken. Im Wechselspiel von Bewegung und Unterbrechung entsteht ein weiterer Kontrapunkt, der bestimmend ist für den rhythmischen Gestus des Stücks. Wie in einem Vexierbild greifen vordergründige akustische Erscheinung und hintergründig wirkende Struktur ineinander, wobei jede Ebene eine gewisse Autonomie bewahrt. Etwa in der Mitte kulminiert das Stück in einen Moment maximaler Verdichtung, indem der spielbare Bereich des Cellos in einer exponentiell nach oben ansteigenden Kurve verlassen und die rhythmische Struktur vollständig aufgelöst wird. Dieses Moment von gleichzeitiger Verdichtung und Auflösung markiert den Wendepunkt in solo18. Die Verhältnisse kehren sich um. Wurde zu Beginn die kontinuierliche Bewegung von Akzenten durchbrochen, wird diese Funktion jetzt von raschen Vorschlagsnoten übernommen, die nach und nach eine Eigendynamik entwickeln. Auch die Klangfarblichkeit verändert sich in diesem zweiten Teil vom kristallinen Sul Ponticello bis zum weichen Sul Tasto und einem immer dünner werdenden Bogenstrich, bis das Geschehen schließlich bei retardierendem Tempo in einen fast körperlosen gezupften Klang im vierfachen Pianissimo mündet. Die aufsteigende Quintfigur zu Beginn erscheint nun um eine Tonstufe erhöht in einer Abwärtsbewegung. Strenge Struktur und Auflösungstendenzen werden so am Ende von solo18 dialektisch verknüpft. Im Gegensatz zur beinahe martialischen Klangwelt des duodezett von Marcus Antonius Wesselmann, taucht das Cello in solo18 in eine Klanglichkeit, die er selbst als graziös, weich, beinahe zärtlich beschreibt – und als „eigentlich nicht meine Art“.
Sylvia Systermans